Definition der Zielgruppe
Gemäss der Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (Sonderpädagogik-Konkordat) ist die Integration von behinderten Schülerinnen und Schülern separierenden Lösungen vorzuziehen. Die Integration kommt jedoch nur zum Zug, sofern und soweit das Wohl und die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes dies erlauben. Die Schülerinnen und Schüler, für die eine Integration in die Regelschule keine angebrachte Lösung darstellt, haben die Möglichkeit, eine Sonderschule zu besuchen, die ihren Bedürfnissen entspricht.
Die Sonderschulen gehören zur obligatorischen Bildungsstufe und sind auf bestimmte Behinderungsformen oder Lern- und Verhaltensschwierigkeiten spezialisiert. So gibt es beispielsweise Sonderschulen für geistig Behinderte, für Lernbehinderte, für Körper- und Schwerbehinderte, für Hör-, Sprach- und Sehbehinderte oder teilweise auch für chronisch Kranke (Spitalschulen). Die Kantone sind frei, sich bezüglich der Sonderschulen zu organisieren, die Möglichkeit eines Besuchs einer Sonderschule muss aber in allen Fällen aufrechterhalten werden.
Aufnahmebedingungen und Wahl der Bildungseinrichtung
Sonderschulen nehmen ausschliesslich Kinder und Jugendliche auf, die einen ausgewiesenen Anspruch auf verstärkte Massnahmen haben. Verstärkte Massnahmen zeichnen sich aus durch einzelne oder alle der folgenden Merkmale:
- Eine lange Dauer
- Eine hohe Intensität
- Einen hohen Spezialisierungsgrad der Fachpersonen
- Einschneidende Konsequenzen auf den Alltag, das soziale Umfeld oder den Lebenslauf des Kindes oder des Jugendlichen
Die Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (Sonderpädagogik-Konkordat) stellt allen Kantonen für die Zuweisung zu verstärkten Massnahmen das Standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) zur Ermittlung des individuellen Bedarfs zur Verfügung. Für die Kantone, die dem Konkordat beigetreten sind, ist die Anwendung des Instruments verbindlich.
Das SAV orientiert sich am Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), insbesondere der Version für Kinder und Jugendlichen (ICF-CY) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dient der systematischen Erfassung von Informationen, die für die Bedarfseinschätzung relevant sind. Das Vorgehen dazu ist mehrdimensional, wobei nicht einzelne Merkmale (z.B. eine Schädigung) eine Massnahme auslösen sollen. Vielmehr soll der tatsächliche Bedarf aufgrund transparenter Entwicklungs- und Bildungsziele bestimmt werden. Das Abklärungsverfahren besteht aus zwei standardisierten Prozessschritten. Jeder dieser Schritte besteht aus mehreren Elementen, welcher Informationen zu verschiedenen Bereichen erfasst.
1. Basisabklärung:
In der Basisabklärung wird der Ist-Zustand des Kindes erfasst. Diese umfasst folgende Elemente:
- Persönliche Angaben (Kind und Erziehungsberechtigte)
- Angaben zur Anmeldung und Fragestellung
- Aktuelles Förderumfeld
- Familiärer Kontext
- Erfassung der Funktionsfähigkeit (Kurzliste mit Aktivitäten/Partizipation, Körperfunktionen)
- Kategoriale Erfassung (Haupt und Nebendiagnose, Problembeschreibung)
2. Bedarfsabklärung:
Im Rahmen der Bedarfsabklärung erfolgt ein „Soll-Ist-Vergleich“. Dabei werden die folgenden Elemente beurteilt:
- Entwicklungs- und Bildungsziele festlegen
- Bedarfseinschätzung (sonderpädagogische Massnahmen, Beratung und Unterstützung, Betreuung, medizinische Massnahmen) vornehmen
- Empfehlungen (Hauptförderort, Massnahmen) abgeben
Ein dritter Prozessschritt (Bedarfsfeststellung und Entscheidung) wird im SAV bewusst nicht umschrieben. Aufgrund der unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben können sich die entsprechenden Regelungen in den einzelnen Kantonen voneinander unterscheiden. Auf Grundlage der Basis- und Bedarfsabklärung entscheidet die vom Gesetz vorgeschriebene kantonale Schulbehörde, ob eine Zuweisung in eine Sonderschule erfolgt oder nicht. Die Erziehungsberechtigten bzw. die Schülerin oder der Schüler haben einen Anspruch darauf, dass der ausgewiesene individuelle Bedarf gedeckt wird. Bei ausgewiesenem Anspruch hat der Kanton das entsprechende sonderpädagogische Angebot zwar zur Verfügung zu stellen, die Durchführungsstelle kann hingegen nicht von den Erziehungsberechtigten bestimmt werden. Diese organisatorischen Entscheidungen liegen in der Verantwortung der zuständigen kantonalen Instanz. Die Mitwirkung der Erziehungsberechtigten am Anordnungsprozess ist hingegen sicherzustellen. Dies gilt für das Abklärungsverfahren und für die Wahl der Massnahmen bzw. der Schule. Kleinere Kantone verfügen über keine oder nur eine kleine Angebotspalette an Sonderschulen. In diesem Fall werden ausserkantonale Angebote genutzt.
Der Besuch einer Sonderschule kann zusätzlich mit einem stationären Unterbringungsangebot oder mit einem Betreuungsangebot in Tagesstrukturen kombiniert sein. Eine Person kann auch zwei verschiedene Settings besuchen. Zum Beispiel: Eine Schülerin oder ein Schüler besucht zwei Tage die Woche die Regelschule und wird die anderen drei Wochentage in einer Sonderschule unterrichtet (teilzeitliche Integration).
Altersstufen und Gruppenbildung
Auch Sonderschulen sind in Stufen aufgeteilt, jedoch stark in Abhängigkeit vom besonderen Bildungsbedarf bzw. der Behinderungsart und von der Anzahl der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Dies gilt auch für die Altersdurchmischung der Klassen. Klassen werden in der Regel nach dem Kriterium der Art des besonderen Bildungsbedarfs bzw. der Behinderungsart gebildet. Häufig besuchen Kinder und Jugendliche verschiedenen Alters dieselbe Klasse. Eine gängige Unterteilung ist die Zusammenführung des ersten bis dritten Schuljahrs, des vierten bis sechsten Schuljahrs und der siebten bis neunten Schuljahrs. Pro Klasse werden in der Regel fünf bis acht Kinder aufgenommen.
Lehrpläne, Fächer
Die Sonderschulen kannten bis dato keine verbindlichen offiziellen Lehrpläne. Der Lehrstoff wurde den Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler angepasst. Es wird besondere Aufmerksamkeit auf die Ausbildung von grundlegenden Kompetenzen gelegt - und dies sowohl im Bereich der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) als auch in den für die kindliche Entwicklung unentbehrlichen Fähigkeiten in Bezug auf Selbständigkeit und gesellschaftliche Integration (Motorik, Wahrnehmung, Sprache, emotionale und soziale Kompetenzen).
Die Lernziele und Anforderungen sind individuell auf die Fähigkeiten der betroffenen Kinder zugeschnitten und werden zunehmend in individuellen Entwicklungsplänen festgeschrieben. Dabei hängen die Lernziele im Wesentlichen von der Art der Behinderung ab: eine sensorische oder physische Schwäche bedeutet nicht a priori auch eine Einschränkung des kognitiven Lernens. In diesem Fall stehen spezielle Lehrmittel und Hilfen zur Verfügung, um die Anforderungen und Ziele der Regelschule zu erreichen.
In Fällen, in welchen die Einschränkung der Entwicklung und der Lernfähigkeit eines Schülers eine Orientierung an den Lehrplänen der Regelschule nicht zulässt, zielen die festgelegten Lernziele insbesondere auf grösstmögliche Selbständigkeit und bestmögliche soziale Integration ab.
Unterrichtsmethoden und Unterrichtsmittel
Die Unterrichtsmethoden sowohl in der Sonder- als auch in der Regelschule richten sich nach der Art der Behinderung bzw. dem besonderen Bildungsbedarf der Schülerinnen und Schüler. Die individuelle Begleitung und Förderung ist zentral. Der Unterricht in Sonderschulen findet in Kleingruppen oder auch im Einzelunterricht statt. Die Klassengrössen umfassen meist fünf bis acht Kinder.
Im Rahmen der integrativen Schulung kann eine Schülerin oder ein Schüler kollektiv oder individuell zugeteilte Massnahmen erhalten. Die Organisation des Unterrichts kann dabei verschiedene Formen annehmen:
- Die Regelklassenlehrperson arbeitet alleine mit der Klasse, in der sich auch Kinder mit einem besonderen Bildungsbedarf befinden. Die Schulische Heilpädagogin bzw. der Schulische Heilpädagoge beteiligt sich am Aufbau der Integrativen Förderung und gestaltet die Unterrichtsformen mit. Bei auftretenden Schwierigkeiten kann die Regelklassenlehrperson die Schulische Heilpädagogin beiziehen;
- Regelklassenlehrperson und Schulische Heilpädagogin unterrichten die Klasse gemeinsam, verschiedene Formen des Teamteachings sind möglich;
- Die Schulische Heilpädagogin unterrichtet punktuell in einem separaten Zimmer eine Gruppe von Kindern mit speziellen Bedürfnissen;
- Die Schulische Heilpädagogin unterrichtet punktuell in einem separaten Zimmer eine gemischte Gruppe von Kindern;
- Die Schulische Heilpädagogin unterrichtet punktuell in einem separaten Zimmer ein Kind mit speziellen Bedürfnissen (Einzelförderung, Förderdiagnostik).
Schülerversetzung
Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen steigen in der Regel in die nächste Klasse auf, es gibt keine Promotionsregelung. Im Sinne der Durchlässigkeit ist auch ein Wechsel von einer Sonderschule in eine Regelklasse möglich.
Das bevorzugte Bewertungsverfahren in der Sonderpädagogik ist eine kontinuierliche und formative Bewertung, die ein regelmässiges Feedback für Schülerinnen, Schüler und Erziehungsberechtigte ermöglicht. Die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen wird in einem Bericht zum Schuljahres- oder Halbjahresende protokolliert. Prüfungen oder Benotungen zum Jahresende bilden eher die Ausnahme.
Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die in Regelschulen integriert sind und dem normalen Lehrplan unterliegen, werden wie die Mitschülerinnen und -schüler bewertet. Behinderte Schülerinnen und Schüler können dabei aber einen Nachteilsausgleich einfordern. Dieser kann verschiedene Massnahmen beinhalten:
- Verlängerung der Zeitdauer, um eine Prüfung zu absolvieren
- Begleitung durch eine Drittperson, z.B. Gebärden-Dolmetscher bei mündlichen Examen bei Hörbehinderung
- individuelle Pausengestaltung
- mündliches statt schriftliches Examen und umgekehrt
- zur Verfügung stellen von spezifischen Arbeitsinstrumenten (Computer, Tonbandgerät, usw.)
- Anpassung der Prüfungsmedien oder der Form von Examen
Abschlusszeugnis
Im Bereich der obligatorischen Schule gibt es keine Abschlusszeugnisse. Auf der Sekundarstufe II erhalten die Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf der allgemeinbildenden Schulen sowie der beruflichen Grundbildung die gleichen Abschlusszeugnisse wie die übrigen Schülerinnen und Schüler. In der beruflichen Grundbildung können Lernende mit Lernschwierigkeiten oder leichten Behinderungen ein eidgenössisches Berufsattest oder bei grösseren Lern- oder Leistungsbeeinträchtigungen eine praktische Ausbildung (PrA INSOS), die jedoch eidgenössisch nicht anerkannt ist, absolvieren.
Referenzen
Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik